Freitag, 10. September 2010

Meinungsfreiheit für deutsche Nationalisten?

Thilo Sarrazin und Erika Steinbach gingen im September 2010 mit der Behauptung hausieren, man dürfe in Deutschland "nicht mehr alles sagen"; die Meinungsfreiheit werde für bestimmte Meinungen oder gar Tatsachenfeststellungen eingeschränkt. Diese Behauptung ist falsch. In einem Land, in dem keine Meinungsfreiheit besteht (z.B. in Saudi-Arabien), werden Menschen, die öffentlich bestimmte Meinungen äußern, ins Gefängnis geworfen. In welchem Gefängnis sitzt Sarrazin? Er sitzt vor Fernsehkameras, verkauft seine Bücher und kassiert eine fette Pension von der Bundesbank. In welchem Gefängnis sitzt Steinbach? Sie sitzt vor Fernsehkameras, macht Propaganda gegen die Bundesregierung und kassiert munter weiter ihre Diäten als CDU-Bundestagsabgeordnete.


Sarrazin, Steinbach und ihre Anhänger verwechseln die Meinungsfreiheit mit dem nicht existenten Recht einzelner Parteimitglieder, die Politik ihrer Partei zu sabotieren. Jede Partei und jeder Verein hat in Deutschland das Recht, seine Politik selbst zu bestimmen und damit auch das politische Spektrum der Mitglieder einzuschränken. Wenn SPD oder CDU Mitglieder ausschließen, die permanent die politischen Grundsätze der SPD bzw. der CDU öffentlich mit Füßen treten, ist das das gute Recht dieser Parteien. Die Meinungsfreiheit der Betroffenen wird dadurch in keiner Weise eingeschränkt, denn die können sich ja weiterhin frei an die Öffentlichkeit wenden - nur eben nicht mehr als SPD- oder CDU-Mitglied. Schließlich nimmt sich auch jeder Schützenverein das Recht, Mitglieder auszuschließen, die öffentlich dem Ansehen der Schützen schaden.

Ähnlich äußerte sich am 10.9.2010 auch Heribert Prantl in sueddeutsche.de. Ich war aber schneller!

Sonntag, 5. September 2010

Ehrenmorde und Familiendramen

"Ehrenmorde" gibt es nicht nur auf islamisch, sondern auch auf christlich. Dann heißen sie "Familiendramen". Wenn christlich-abendländisch geprägte Männer es nicht ertragen können, dass sich ihre Frau von ihnen getrennt und sich selbstständig gemacht hat, greifen manche von ihnen zum Mittel des Selbstmordanschlags: Sie töten Frau und Kinder und anschließend sich selbst.
Ein interessanter Vergleich, den Florian Rötzer am 3.9.2010 in telepolis anstellte.

Samstag, 31. Juli 2010

Genomprojekt 10 Jahre danach

Eine Bilanz 10 Jahre nach der angeblichen Entzifferung des menschlichen Genoms im Jahr 2000 (die in Wirklichkeit erst 2004 abgeschlossen war) überschrieb die Neue Westfälische (24.7.2010) mit den Worten »Der Schlüssel zur Menschheit« - in grotesker Überschätzung der Bedeutung dieses kleinen Teilbereichs menschlicher Wissenschaft. Die vom Genomprojekt initiierten Fortschritte, so lesen wir im Kleingedruckten, beschränken sich vor allem auf die Felder Sequenzierungstechnik und Bioinformatik – also die Techniken, die für das Genomprojekt selbst erforderlich waren.Das Genomprojekt hat also hauptsächlich sich selbst vorangebracht.

Eine kritische Würdigung gab auch der Biologe Hartmut Meyer: WDR Wissen, 21.6.2010

95 Thesen zum Abbau sozialer Menschenrechte (2004)

Im Jahr 2004 habe ich im Umfeld von Attac folgende 95 Thesen verfasst und in Umlauf gebracht. Die meisten davon sind, von ein paar Namen und Daten abgesehen, leider immer noch aktuell. Martin Luther hat seine 95 Thesen anno 1517 an das Portal der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt. Heute bräuchten wir wohl eine bekannte Person des Fernsehens, die ihre eigene Sendung kapert, um dort 95 Thesen gegen die Mächtigen unserer Tage dem Fernsehpublikum vorzutragen.

Zu den 95 Thesen...

Samstag, 15. Mai 2010

Köhler, dpa und „die Politik“

Im Mai 2010 sagte Bundespräsident Horst Köhler bei einem Festakt für den neuen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle: »Das Bundesverfassungsgericht ist nicht gedacht als Ersatz für Politik.« Die Verfassungsrichter könnten den Bürgern und ihren Repräsentanten die Aufgabe nicht abnehmen, selber politisch zu denken, zu streiten, zu entscheiden und zu handeln. Es sei auffällig, dass politische Auseinandersetzungen immer seltener ausdiskutiert würden. »Wer etwas erreichen will, deklariert das Gewünschte als Verfassungsgebot«, und wer es nicht bekomme, rufe das Bundesverfassungsgericht an.

So weit, so richtig gesehen und analysiert. Die dpa allerdings formulierte ihren Einleitungssatz zu der einschlägigen Meldung so: »Bundespräsident Horst Köhler hat die Politik aufgefordert, wichtige Entscheidungen nicht so häufig dem Bundesverfassungsgericht zu überlassen.« (Nach SZ online 14.5.2010) Hier hat das Wort »die Politik« eine ganz andere Bedeutung als in den Sätzen Köhlers. Für Köhler ist Politik etwas, das die Bürger und ihre Repräsentanten in den Parlamenten selber machen können: Politik ist Denken, Streiten, Ausdiskutieren, Entscheiden. Für die dpa ist »die Politik« eine Art Firma, also eine klar begrenzte Gruppe von Personen. So wie die Bahn dafür zuständig ist, dass Züge fahren, ist »die Politik« nach dpa dafür zuständig, dass Gesetze gemacht und Entscheidungen getroffen werden. Dieses Politikverständnis der dpa ist undemokratisch. Denn so wenig direkten Einfluss, wie wir Bürger auf die Fahrpläne der Bahn nehmen können, so wenig direkten Einfluss haben wir – im Verständnis der dpa – auf das, was die Firma Politik macht.

Dienstag, 11. Mai 2010

Winzige Steuer, große Wirkung

Wenn die EU-Regierungen jetzt keine Steuer auf internationale Finanztransaktionen einführen, haben sie nichts besseres als den Untergang diverser Staatswesen verdient. Wer sich nicht wehrt gegen destruktive Spekulanten, lebt verkehrt.

Hier die Attac-Petition zum Thema

Freitag, 7. Mai 2010

Steuersenkung schadet der Wirtschaft

Die Steuerschätzung bringt es an den Tag: Die von FDP, Unternehmerverbänden und Wirtschaftsprofessoren seit Jahren geforderte Steuersenkung ist schon längst da. 2010 werden die Steuereinnahmen voraussichtlich 85 Mrd € niedriger liegen als im Mai 2008 erwartet. 2011 wird die Differenz demnach 105 Mrd € betragen. Das ist es, was Bürger und Unternehmen jetzt schon an Steuern sparen. Wenn es stimmen würde, was die Steuersenker behaupten, müsste es der Wirtschaft also ganz blendend gehen von den vielen Steuern, die sie jetzt spart. In Wirklichkeit hat sie aber die Krise.

Das könnte mit einem Denkfehler der Staatsfeinde zusammenhängen. Die gehen immer davon aus, als würde jeder Euro Steuergeld spurlos in einem schwarzen Loch verschwinden. Tut er aber nicht. In Wirklichkeit gibt der Staat seine Steuereinnahmen wieder aus; sie fließen also in die Wirtschaft zurück, zum Beispiel in Form von Aufträgen oder von Gehältern, die die Beamten und Angestellten wiederum für ihren Konsum ausgeben. Selbst die Zinsen, die der Staat für seine Kredite zahlt, gehen an die Banken, also in den Wirtschaftskreislauf. Wenn man da einen Euro wegnimmt und stattdessen einem Privatmann gibt, ändert das für die Konjunktur gar nichts. Eher im Gegenteil: Privatleute neigen nämlich, anders als der Staat, dazu, einen Teil ihrer Einnahmen zu sparen.

Montag, 29. März 2010

Leutnant Schmidt und die Pazifisten

Das Zeit-Magazin brachte Anfang März 2010 ein Interview mit Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt (*1918). Die Redakteure fragten ihn, warum die »alten Falken« jetzt eine Welt ohne Atomwaffen anstrebten, während den Pazifisten von damals (gemeint war die Friedensbewegung von 1979-1984) das inzwischen egal sei - so glauben die Journalisten. Sie bezogen sich auf eine Veranstaltung, auf der Schmidt, Egon Bahr, Paul Nitze, George Shultz, Henry Kissinger u.a. zur atomaren Abrüstung aufgerufen hatten. Ich wundere mich, warum die Redakteure einen Schmidt fragen, was mit den Pazifisten los sei; wäre es nicht sinnvoller, das einen Pazifisten zu fragen? Aber das ist wohl der Hauptunterschied zwischen Falken und Pazifisten: Falken werden interviewt, und Pazifisten werden nicht interviewt.

Es hat mich schon erstaunt zu lesen, wie wenig Schmidt bis heute von dem begriffen hat, was uns Pazifisten damals bewegt hat, was wir gedacht und immerhin auch laut gesagt haben. Alles klar: Wir waren bloß emotional; er war gut informiert, stets vernünftig und zu komplizierten Gedankengängen fähig.

Schmidt unterstellt uns eine Angst, die wir niemals hatten, und die in Wirklichkeit seine eigene Angst war: die Angst des Wehrmachts-Leutnants vor der Roten Armee. Wir hatten damals bekanntlich Angst vor der Neutronenbombe, vor amerikanischen Sprengköpfen, vor amerikanischen Atomkriegern - deshalb hat man uns ja Anti-Amerikanismus vorgeworfen. Aber für Schmidt war und ist es unbegreiflich, wie Deutsche Angst vor amerikanischen Atomwaffen haben konnten. Seine Angst war, dass die Amerikaner ihre Atomwaffen im Kriegsfall vielleicht nicht einsetzen und Deutschland im Stich lassen. Für ihn sind Friedensbewegte immer noch so etwas wie Deserteure, die vor der anrückenden Roten Armee kampflos kapitulieren wollen. Und er ist – das lese ich jetzt zwischen den Zeilen – immer noch stolz darauf, dass er damals als Leutnant bis zum bitteren Ende weitergemordet, Pardon: seine Pflicht getan hat.

Mit manchem älteren Herrn hatte ich schon Streit über dieses Thema. Einer davon hat damals zwei seiner Brüder verloren, weil irgendein General oder Leutnant nicht rechtzeitig kapituliert hat. Aber dennoch lässt er auf diesen General oder Leutnant bis heute nichts kommen. Schuld war in seinen Augen einzig und allein die Rote Armee.

Donnerstag, 11. März 2010

Bankentribunal in Berlin am 9.-11. April 2010

Das Leben ist zwar keine Gerichtsverhandlung, aber ein bisschen Justitia tut dann doch gut:

Attac und andere wollen den internationalen Großbanken, die die Finanzkrise zu verantworten haben und jetzt, gedeckt durch staatliche Garantien, munter so weiter spekulieren wie zuvor, den Prozess machen. Der Prozess findet am 9.-11. April 2010 in der Berliner Volksbühne statt.

Fünf Richterinnen und Richter: Sozialrichter Jürgen Borchert, Terre-des-Hommes-Geschäftsführerin Danuta Sacher, Wirtschaftswissenschaftler Karl Georg Zinn, Wirtschaftsethiker Friedhelm Hengsbach und taz-Redakteurin Ulrike Hermann, werden ein Urteil im Namen der Bürgerinnen und Bürger sprechen. Den angeklagten Bankiers, Wirtschaftsprüfern und Politikern wurden am 27. Februar die Vorladungen zugestellt. Sie bekommen renommierte Pflichtverteidiger wie den Wirtschaftsjournalisten Wolfgang Kaden zur Seite gestellt, die an ihrer statt sprechen werden, falls sie nicht erscheinen. Prominente Zeuginnen und Gutachter werden mit ihren Aussagen die Praktiken von Politik und Wirtschaft erhellen.

In drei Beweisaufnahmen werden individuelle Schuld und systemische Krisen aufgerollt. Die Anklage lautet auf Aushöhlung der Demokratie, Zerstörung der Lebensgrundlagen in Nord und Süd und Vorbereitung der nächsten Krise bzw. die verpasste Chance auf Regulierung der Finanzmärkte.

Zum Attac-Bankentribunal
Kartenvorverkauf

Mittwoch, 17. Februar 2010

Westerwelle und die Dekadenz

Der FDP-Chef Guido Westerwelle erklärte es im Februar 2010 für eine Art von "spätrömischer Dekadenz", wenn eine arbeitslose Kellnerin mit Hartz IV mehr bekommt als eine arbeitende Kellnerin. Es bleibt sein Geheimnis, wie jemand mit 10,80 € pro Tag (Regelsatz für Erwachsene nach Hartz IV) dekadent werden kann. Was den Abstand zwischen Lohn und Sozialhilfe betrifft, von dem nach Westerwelle Deutschlands Wohl und Wehe abhängt, so kann man den auch einfach dadurch ändern, dass man die Löhne erhöht. Diese Lösungs-möglichkeit haben die Unternehmer sogar selbst in der Hand; dazu brauchen sie gar keinen Staat. Die paar Cent, die es dann weniger Dividende gibt, könnte es den Aktionären ja wert sein, die Gesellschaft vor Dekadenzerscheinungen zu retten. Der erste Aufsichtsrat, der so etwas beschließt, soll das Bundesverdienstkreuz bekommen. Dafür werde ich mich persönlich einsetzen - versprochen!

Westerwelles Originaltext: Die Welt 11.2.2010

Mittwoch, 10. Februar 2010

Studienplatzvergabe: Chaos ist machbar!

Lustige Anarchisten in Berlin: Unter großem Jubel von FDP, BDI und Hochschulen hat man um 2005 die verhasste Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) als Musterexemplar eines »bürokratischen Monsters« weitgehend zerstört. Ende 2008 und Ende 2009 kam dann die Quittung: Die Hochschulen konnten Zigtausende Studienplätze (18.000 waren es Anfang 2010) in knappen Fächern wie Jura oder Wirtschaftswissenschaften monatelang nicht besetzen, weil Bewerber sich an mehreren Hochschulen zugleich beworben hatten. Zu ZVS-Zeiten war das kein Problem gewesen. NRW-Wissenschaftsminister Andreas Pinkwart kündigte im Februar 2010 - wie schon ein Jahr zuvor - eine Super-Software an, die künftig die frühere Arbeit der ZVS erledigen soll. So etwas funktioniert erfahrungsgemäß (siehe z. B. Toll Collect) frühestens vier Jahre nach dem Beginn der Entwicklung und kostet Milliarden. Bis dahin wird der »Bürokratie«-Abbau bei der Studienplatzvergabe voraussichtlich ein siebenjähriges Chaos ausgelöst haben.
WAZ (Der Westen) 9.2.2010