Samstag, 31. Oktober 2009

FDP: 60 Jahre Grundgesetz sind genug!

1949 und 1950, als das Grundgesetz und die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen entstanden, waren sich die Mütter und Väter der Verfassungen weitgehend einig, dass die Übermacht von Großkonzernen eine Gefahr für die Demokratie darstellt. Deshalb statteten sie die Verfassungen mit Artikeln aus, die die Eigentümer und Unternehmer zum Gemeinwohl verpflichten, die Vergesellschaftung von Großunternehmen zulassen oder - im Falle NRW - sogar empfehlen.
Schon seit 1995 bemüht sich vor allem die - damals von Jürgen Möllemann angeführte - FDP NRW darum, diese Überbleibsel einer Zeit, in der sogar führende westdeutsche Politiker noch außerhalb der Profitlogik von Aktionären denken konnten, zu beseitigen. Es muss doch möglich sein, die totale Diktatur der Großaktionäre über sämtliche Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens auch in den Verfassungen zu verankern! Die VVN - Bund der Antifaschisten NRW hat im Oktober 2009 diese Bestrebungen der FDP NRW dokumentiert.
Im gleichen Monat schrien Jürgen Rüttgers (CDU) und Andreas Pinkwart (FDP): Die Linke in NRW habe den Boden der Verfassung verlassen, weil sie es gewagt hat, die Energieversorgung als öffentliches Gut zu betrachten, das vielleicht besser unter demokratische Kontrolle gehört als unter die Kontrolle einer Handvoll hemmungsloser Börsenspekulanten. Dazu Yahoo! Nachrichten 7.10.2009

Steuern senken schadet der Wirtschaft

Hört, hört! Endlich kommen Zweifel an der aberwitzigen Theorie der FDP auf, dass man die Staatsverschuldung mit Steuersenkungen bekämpfen könne. Hier z.B. in der "Welt" vom 19.10.2009.
Dabei gehen offenbar auch die dort zitierten Kritiker, die den Wachstumseffekt von Steuersenkungen eher gering einschätzen, in der Regel davon aus, dass der Staat seine wegfallenden Einnahmen durch Kredite ersetzt. Sie berücksichtigen in ihren Rechnungen nicht den negativen Wachstumseffekt durch wegfallende Staatsausgaben. Dieser tritt nicht nur dann ein, wenn der Staat mangels Steuereinnahmen weniger investiert, sondern auch dann, wenn der Staat sein Personal abbaut, also die Arbeitslosigkeit vergrößert, oder wenn er die Gehälter seiner Angestellten und Beamten absenkt.
"Weniger Netto" kommt vor allem von "weniger Brutto". Dies und die Tatsache, dass Arbeiter, Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes Konsumenten sind wie alle anderen Bürger auch, wird von den rein profit-orientierten herrschenden Ökonomen geflissentlich ignoriert, weil es nicht in ihr Weltbild passt. Von wegen "ideologiefreie Wissenschaft"!

Donnerstag, 22. Oktober 2009

Sarrazin heißt die Kanaille

Der Berliner Sozialdemokrat, ehemalige Finanzsenator und spätere Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin hetzte im Oktober 2009 öffentlich gegen Türken und Araber in Deutschland. Der jüdische Schriftsteller Ralph Giordano (»Die Bertinis«) beeilte sich, ihm beizupflichten, als Sarrazin angegriffen wurde. Die Süddeutsche schrieb am 14.10.2009:

Giordano: "Sarrazin beschreibt Wirklichkeit"
In der Sache richtig, aber im Ton vergriffen - auch der jüdische Schriftsteller Ralph Giordano nahm Sarrazin in Schutz. "Sarrazin beschreibt die Wirklichkeit darin so, wie sie ist, und nicht wie seit vielen Jahren von der politischen Korrektheit dargestellt", sagte der Publizist dem Sender MDR Info.

Giordano hat Unrecht: Sarrazin hat keineswegs die Wahrheit gesagt.
Sarrazin hat gesagt, dass Türken und Araber in Deutschland nicht produktiv seien, außer beim Obst- und Gemüsehandel. Dieser Teil seiner Hetzrede wird übrigens in allen späteren Zusammenfassungen verschwiegen. Er ist eine Lüge, denn es gibt tausende von produktiven Firmen, die von türkischstämmigen Geschäftsführern und Angestellten geführt werden. Millionen von Türkinnen und Türken sorgen für die Sauberkeit in deutschen Banken, Geschäftshäusern und auf deutschen Straßen. Ich hoffe doch, dass eine davon in den nächsten Wochen regelmäßig einen Küchenmülleimer auf Sarrazins Schreibtisch entleert.

Sarrazins Verständnis von Produktivität stammt aus der Dinosaurierzeit des Kapitalismus. Leute, die die Bevölkerung mit frischem Obst und Gemüse versorgen, sind gesellschaftlich viel nützlicher als Leute, die sinnlose Betonklötze in die Landschaft setzen, die 15 jahre später als Investitionsruinen wieder gesprengt werden müssen, oder Leute, die 15.000seitige Verträge für Cross-Border-Leasing-Geschäfte ausformulieren, die nur den Zweck haben, Kommunen übers Ohr zu hauen.

Ich liebe mein türkisches Obst- und Gemüsegeschäft! Ohne das wäre die Stadt ein Stückchen hässlicher.

Sarrazins Gerede über Türken und Araber, die "immer neue Kopftuchmädchen produzieren", ist ein rassistischer Topos der übelsten Sorte. Das gleiche Verhalten, das als heilige Tat gilt, wenn die Täter blond und blauäugig sind, gilt Sarrazin als verwerflich, wenn die Täter schwarzhaarig und braunäugig sind. Genau so sieht Rassismus aus, Herr Giordano! Wenn einer das wissen müsste, dann sind Sie es.

Übrigens wirbt die Bild-Zeitung für Sarrazins Hetzkampagne mit folgender Google-Anzeige:
Promis stehen zu Sarrazin
Migrantenschelte findet Befürworter
Mehr auf Bild.de

Dienstag, 29. September 2009

Die Briefkästen im Kleinwalsertal

danken den deutschen Bauern, Handwerkern, Unternehmensberatern, Betriebswirten und Ingenieuren für das hervorragende Wahlergebnis der FDP!

Sie freuen sich auf das Ende der Betriebsprüfungen und sämtlicher Prozesse gegen Steuerhinterzieher und Wirtschaftskriminelle. Das Personalabbauprogramm der FDP wird es richten.

Auch schön, dass die Löhne in Deutschland noch weiter absacken dürfen.

So weit der Galgenhumor.
Hier ein guter Kommentar von Bettina Gaus in der taz.

In der Tat hat es der linksdemokratischen Sache noch niemals und nirgends genützt, wenn die Sozialdemokratie schwach war. Wann immer die Linke stark war (z.B. in Deutschland 1918 und 1972, in Italien 1946, in Frankreich 1981), war auch die Sozialdemokratie stark. Hämische Freude über die Niederlage der SPD ist also naiv und kurzsichtig.

Mittwoch, 23. September 2009

FDP schützt Spekulanten und Steuerhinterzieher

Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise wurde nicht, wie Hans-Werner Sinn, Guido Westerwelle, Hans-Olaf Henkel usw. jahrelang gepredigt haben, von Gewerkschaftsfunktionären, grünen Lehrerinnen und sturen Bürokraten ausgelöst, sondern, wie wir wissen, von hippen Finanzberatern, dynamischen Investmentbankern und hemmungslosen Spekulanten.

Zum weltumspannenden Raubsystem dieser Bande gehören die sog. Steueroasen. Das sind Länder und Pseudo-Länder (wie das Kleinwalsertal, Monaco oder die britischen Cayman-Inseln), in denen die Finanzberater der Reichen nach Belieben mysteriöse Firmen ansiedeln können, die keinem Gesetz unterliegen und keinen Cent Steuern bezahlen müssen. Zwischen solchen Firmen kann man beliebige Gewinne folgenlos hin- und herschieben.
Mehr dazu bei Attac

Im März 2009 kümmerte sich Bundesfinanzminister Peer Steinbrück endlich (reichlich spät und halbherzig) darum, dass zumindest unser Nachbarland Schweiz diesem Treiben gewisse Schranken setzt. FDP-Chef Guido Westerwelle griff diese Bestrebungen am 19. März im Bundestag scharf an. Ihm war es wichtig, dass seine Klientel nach wie vor die Schweiz nutzen kann, um dem deutschen Staat Steuergelder zu hinterziehen.

Dabei sagte er einen Satz, der durch die Presse ging: "Für den normalen Bürger ist in der Regel weniger die Oase, sondern vielmehr die Wüste drum herum das Problem." Westerwelle verteidigte also die Existenz von "Steueroasen" und nutzte dabei geschickt aus, dass die Kritiker der Steuerhinterzieher leider seit Jahren ein schlechtes Bild benutzen: das "Austrocknen der Steueroasen". Ein positiver, menschenfreundlicher Vorgang (nämlich Maßnahmen gegen Diebe und Betrüger) wird hier mit einem negativen Bild versehen. Natürlich ist die Wüste schlecht und die Oase gut für die Menschen. Deshalb sollten wir sagen: Wir wollen die gesetzlosen Sümpfe trocken legen. Steuern beruhen auf demokratisch beschlossenen Gesetzen und dienen der Finanzierung gemeinnütziger Aufgaben, z. B. von Schulen, Polizei und Sozialhilfe.

Interessant ist an Westerwelles Satz auch, was dieser Herr unter "normalen Bürgern" versteht. Damit meint er nur jene Bürger, die genug Geld auf der hohen Kante haben, dass sich der Aufwand lohnt, dieses durch einen gesetzlosen Sumpf am Finanzamt vorbeizuschleusen. Leute, bei denen die Steuer automatisch vom Lohn abgezogen wird, und Leute, die dank ihres Hungerlohns überhaupt keine Steuern bezahlen, sind offenbar keine "normalen Bürger" im Sinne Westerwelles.

Dienstag, 22. September 2009

Energiepolitik der FDP mittelstandsfeindlich

Die FDP positioniert sich im Wahlkampf 2009 als Partei des Mittelstandes und leistet sich hier und da sogar Ausfälle gegen Konzerne (meist allerdings nur gegen die ehemaligen Staatsbetriebe Deutsche Bahn, Deutsche Post und Telekom). Ihre Energiepolitik allerdings ist eindeutig mittelstandsfeindlich und kommt ausschließlich den Großkonzernen der Energie- und Elektrobranche zugute.

Die FDP befürwortet in ihrem Deutschlandprogramm längere Laufzeiten für Atomkraftwerke (S. 57). Nutznießer einer solchen Entscheidung wären die vier großen Energiekonzerne RWE, Eon, Vattenfall und EnBW. Für sie sind die bestehenden Atomkraftwerke, die längst abgeschrieben sind, reine Profitmaschinen. Dass das so bleibt, dafür setzt sich keine Partei so klar und eindeutig ein wie die FDP.

Das gleiche gilt für die sog. CO2-Abscheidung, die die FDP ebenfalls propagiert - unisono mit den Energiekonzernen RWE und Vattenfall. Das ist der technologisch größenwahnsinnige Versuch, die gigantischen Mengen Kohlendioxid, die konventionelle Kohlekraftwerke ausstoßen, zu verflüssigen und irgendwo im Erdboden einzulagern. Neben den Energiekonzernen profitieren von einem solchen Projekt große Anlagenbau- und Tiefbaukonzerne.

Auf Staatskosten soll nach dem Willen der FDP der Bau eines atomaren Endlagers in Gorleben vorangetrieben werden. Hinter der Mär vom "billigen Atomstrom" stecken seit Jahrzehnten riesige staatliche Subventionen, und nach dem Willen der FDP, die sich sonst gerne als Partei des Subventionsabbaus profiliert, soll das immer so weitergehen. Gerade erst kam heraus, dass im maroden Atomlager Asse jahrzehntelang auf Staatskosten Atommüll aus der Wiederaufbereitung von Brennelementen eingelagert wurde; und dafür, dass der Mist aus dem bröckelnden und voll laufenden Salzbergwerk wieder herausgeholt wird, darf natürlich abermals der Steuerzahler bluten. Nach dem gleichen Muster soll es in Gorleben weitergehen - meint die FDP.

Spar-Axt der FDP trifft fortschrittlichen Mittelstand

Irgendwo muss das Geld für die Konzerne herkommen. Das "Liberale Sparbuch 2009" sieht deshalb milliardenschwere Kürzungen im Etat des Bundesministeriums für Umwelt (BMU) vor (Einzelplan 16). Unter anderem will die FDP das Integrierte Energie- und Klimaprogramm (IEKP) von 2007 komplett streichen. Davon wären tausende von mittelständischen Betrieben betroffen, die in den Bereichen erneuerbare Energien, Energieeffizienz, dezentrale Kraft-Wärme-Kopplung und Wärmedämmung arbeiten und die technologische Entwicklung vorantreiben.

Jahrzehntelang ist die Entwicklung der Atomkraft durch einige wenige Großkonzerne wie Siemens/KWU und AEG massiv vom Staat subventioniert worden - immer mit Unterstützung der "Anti-Subventions-Partei" FDP. 1974-1995 subventionierten die westdeutschen Stromverbraucher über den "Kohlepfennig" auch die Verstromung von deutscher Steinkohle - bis das Bundesverfassungsgericht die Praxis für verfassungswidrig erklärte. Auf solcher Basis ist die Atom- und Kohlekraft-Wirtschaft entstanden, die bis heute den deutschen Energiemarkt beherrscht. Ohne staatliche Hilfen haben alternative Techniken keine Chance, sich gegen diese mit Staatshilfe aufgebaute Marktmacht durchzusetzen. Das weiß die FDP natürlich. Sie agitiert gegen Subventionen für erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Wärmedämmung und nennt das "ideologische Energiepolitik" (so Westerwelle am 19.3.2009). Die FDP zementiert also ganz bewusst die Herrschaft der Großkonzerne über den deutschen Energiemarkt.

Freitag, 11. September 2009

Der idealtypische FDP-Wähler,

ist ein unsozialer nationalistischer Unternehmer-, Atom- und Rüstungsfreund, Raser und eingefleischter Ökofeind. Sagt der Wahl-O-Mat.

In einen solchen Typen habe ich mich aus Forschungszwecken verwandelt, als ich die 38 Fragen des Wahl-O-maten der Bundeszentrale für politische Bildung beantwortete, und bekam als Auswertung die höchste Übereinstimmung mit der FDP, die zweithöchste mit der CDU/CSU, die dritthöchste mit der faschistischen DVU bescheinigt.

Ich habe in allen Fragen bewusst unsozial votiert:
  • gegen einen gesetzlichen Mindestlohn (doppelt gewichtet),
  • für eine Lockerung des Kündigungsschutzes (doppelt gewichtet),
  • gegen die Vermögensteuer,
  • für das dreigliedrige Schulsystem,
  • gegen eine Anhebung der Hartz-IV-Sätze,
  • für Rentenkürzungen bei sinkenden Löhnen.

Bewusst unternehmerfreundlich:
  • für freie Managergehälter (doppelt gewichtet),
  • für einen raschen Wiederausstieg des Staates aus den Banken (doppelt gewichtet),
  • für eine Senkung der Unternehmenssteuern (doppelt gewichtet),
  • gegen ein Verbot von Rüstungsexporten.

Und bewusst umweltfeindlich:
  • für längere Laufzeit der Atomkraftwerke (doppelt gewichtet),
  • für gentechnisch veränderte Lebensmittel,
  • gegen eine Förderung des Ökolandbaus (doppelt gewichtet),
  • gegen ein Tempolimit (doppelt gewichtet).

Bis hierhin war ich in allen Punkten konform mit der FDP – bis auf die Rentenkürzungen: Da drückt sich die FDP offiziell vor einer Aussage und behauptet, das Problem stelle sich nicht. Als idealtypischer FDP-Wähler kann ich mir an dieser Stelle leisten, ehrlicher als die Parteiführung zu sein.

Bei einigen Fragen habe ich zudem bewusst nationalistisch votiert. Schließlich hat Jörg Haider gezeigt, wie man Nationalismus und Neoliberalismus unter einen Hut bringt. Also:
  • gegen einen EU-Beitritt der Türkei,
  • gegen ein kommunales Wahlrecht für Ausländer,
  • für eine Rückkehr zur D-Mark.

Gut, da war ich nur in der Türkeifrage mit der FDP konform, in den beiden anderen Fragen nicht. Dennoch blieb die FDP in der Auswertung eindeutig die Partei meiner Wahl.

Toni Kalverbenden, hier als advocatus diaboli

Afghanistan: 14 Irrtümer über den Krieg

Wieder aktuell geworden ist meine Polemik gegen Iwan Rogosaroffs philosophisch-psychologische Thesen über Krieg und Tod, die er im November 2006 anlässlich eines Vorfalls mit Bundeswehrsoldaten in Afghanistan veröffentlichte.

Zum Originalbeitrag von 2006

Sonntag, 6. September 2009

FDP behindert Verfolgung von Kinderschändern

durch Personalabbau in Justiz und Polizei

Wer ist dafür verantwortlich, dass der Staat zu wenig Mittel hat, um effektiv gegen Kinderpornos vorzugehen? Nicht Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU), wie große Teile der Netzgemeinde und die Anhänger der „Piratenpartei“ behaupten, sondern vor allem die FDP.

Durch das Internet geistert seit Monaten eine Kampagne gegen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen, genannt „Zensursula“. Die campagneros regen sich über die von der Ministerin betriebene Einführung technischer Netzsperren gegen Websites auf, die kinderpornographische Bilder verbreiten. Ihr permanent wiederholte Vorwurf lautet: Die „Zensur“ im Netz diene der Regierung als Alibi, um nicht wirklich gegen Kinderschänder und Kinderpornographen vorgehen zu müssen. Als „Beleg“ für diese These meldeten mehrere Medien am 3.9.2009, Oberstaatsanwalt Peter Vogt aus Sachsen-Anhalt, der erfolgreich gegen Kinderpornoringe ermittelte, habe aus Verzweiflung über den Personalmangel in der Polizei seinen Rücktritt eingereicht. (Qu.: Spiegel, heise.de)

Die Kritiker vergessen dabei, dass ihr Held Vogt die Netzsperren, die sie bekämpfen, energisch befürwortet, und dass ihre Hassfigur von der Leyen als Familienministerin mit dem Personalabbau in Polizei und Justiz wenig bis nichts zu tun hat. Wer aber hat damit zu tun? Es sind vor allem die Unternehmerverbände und deren Lieblingspartei, die FDP, die schon seit vielen Jahren permanent den Personalabbau im öffentlichen Dienst fordern und betreiben. Dahinter steckt ihr Bemühen um massive Steuersenkungen vor allem für Unternehmer und Wohlhabende. Wer die Einnahmen des Staates verringern will, ohne die Staatsverschuldung zu vergrößern, muss die Ausgaben des Staates senken, und das heißt vor allem: den öffentlichen Dienst verkleinern, also Stellen abbauen. Um an dieser Stelle „glaubwürdig“ zu bleiben, schreibt die FDP schon seit 2005 jedes Jahr ein „Liberales Sparbuch“, in dem sie alle ihre Kürzungs- und Stellenabbaupläne zusammenfasst.

Das "Liberale Sparbuch" 2oo9 zum Thema Justiz

In ihrem „Liberalen Sparbuch 2009“ fordert die FDP-Bundestagsfraktion u. a. Kürzungen der Personalmittel des Bundesamtes für Justiz um rd. 1,3 Mio € (= 8 %), der Sachmittel um rd. 800.000 € (= 20 %) und der IT-Mittel um über 1,3 Mio €. (Qu.: FDP-Fraktion; PDF Justiz)

Das Bundesamt für Justiz ist unter anderem zuständig für internationale Rechtshilfe in Strafsachen, also zum Beispiel für Auslieferungsanträge gegen mutmaßliche Kinderschänder und Kinderporno-Verbreiter im Ausland. (Qu.: Bundesamt)

Außerdem hilft dieses Amt bei internationalen Sorgerechtskonflikten. (Qu.: Bundesamt)

Zu solchen kommt es zum Beispiel dann, wenn nach einer Scheidung Väter ihre bei der Mutter verbliebenen Kinder ins Ausland entführen. Da häufig die Gewalttätigkeit solcher Väter der Anlass für die Scheidung gewesen ist, muss den betroffenen Kindern möglichst schnell geholfen werden, ehe ihnen noch Schlimmeres geschieht. Die von der FDP betriebenen Kürzungen gefährden dieses Ziel und würden die betroffenen Kinder einer großen Gefahr aussetzen.
Übrigens leistet das Bundesamt für Justiz seit 2007 auch schnelle und unbürokratische Hilfe für die Opfer faschistischer und rassistischer Gewalttaten. Auch diese Leistungen des Staates gefährdet die FDP mit ihrem Kürzungsprogramm.

Diese Zusammenhänge waren der FDP, als sie ihr „Sparbuch“ verfasste, möglicherweise nicht bewusst. Was sie am Bundesamt für Justiz wahrscheinlich am meisten stört, ist, dass dieses ein Gewerbezentralregister führt (das z. B. sämtliche Gerichtsurteile gegen Unternehmer verzeichnet) und publizitätspflichtige Unternehmer mit Bußgeldern verfolgt, die ihre Jahresabschlüsse nicht rechtzeitig veröffentlichen. (Qu.: Bundesamt)

In diesem Fall wäre es das von der FDP bewusst verfolgte Ziel, potenzielle Bilanzfälscher und Konkursverschlepper vor staatlicher Verfolgung zu schützen. Es kann aber auch sein, dass es der Rechtsanwältepartei FDP ganz recht ist, wenn sich keine staatliche Stelle mehr um internationale Sorgerechtskonflikte kümmert. Denn dann bleibt dieses ganze Feld ausschließlich privaten Rechtsanwälten und Detektiven überlassen. Dass ärmere Mütter entführter Kinder, die sich keinen Rechtsanwalt und keinen Detektiv leisten können, dann völlig hilflos zurückbleiben, scheint die FDP in Kauf zu nehmen.

Außerdem fordert die FDP eine Kürzung der Personalmittel der Generalbundesanwältin um 1,2 Mio € (= 10 %), der Sachmittel um knapp 800.000 € (= 21 %). Die Generalbundesanwältin ist u. a. zuständig für die Verfolgung terroristischer Gewalttäter, die die innere Sicherheit Deutschlands gefährden, und für die Verfolgung von Völkermördern und Kriegsverbrechern. (Qu.: GBA1, GBA2)

Möglicherweise hat die seit 2006 im Amt befindliche Generalbundesanwältin Monika Harms den Hass der Steuerberaterpartei FDP vor allem deshalb auf sich gezogen, weil sie zuvor als Richterin am Bundesgerichtshof vor allem für die Bestrafung krimineller Steuerberater und Wirtschaftsprüfer zuständig war. (Qu.: GBA)

Da sich die FDP auf Bundesebene in der Opposition befindet, konnte sie die meisten ihrer Sparforderungen bislang nicht durchsetzen. Aber die Stimmung für den permanenten Abbau staatlicher Leistungen, die sie zusammen mit vielen befreundeten Journalisten macht, beeinflusst auch die anderen Parteien, vor allem jene, die mit der FDP koalieren oder koalieren wollen: CDU, CSU und SPD.

Personalabbau in NRW

Auf Länderebene sitzt die FDP in vielen Regierungen, so z. B. in Nordrhein-Westfalen. Dort beschloss das CDU-FDP-Kabinett im August 2009, im Jahr 2010 in den Zivil- und Strafgerichten sowie den Staatsanwaltschaften des Landes insgesamt 229 Planstellen zu streichen, davon allein 34 Richter- und Staatsanwaltsstellen. Das sagte der SPD-Rechtsexperte Frank Sichau in einem Kommentar zum Kabinettsbeschluss und zum Entwurf des Landeshaushalts. (Qu.: SPD NRW)

Der Kriminalpolizei in NRW geht es möglicherweise sogar noch schlechter. Im September 2009 meldete der Bund Deutscher Kriminalbeamter bei seiner Jahrestagung in Berg. Gladbach, die Kripo des Oberbergischen Kreises habe genau einen Beamten zur Verfügung, der sich um sämtliche Fälle von Computerkriminalität kümmern müsse. Von Januar bis August habe er 800 neue Fälle auf den Schreibtisch bekommen. Das Durchschnittsalter liege in fast allen Bereichen der Kripo über 50 und der Krankenstand wegen massiver Überlastung teilweise bei 25 %. Zuständig ist Innenminister Ingo Wolf (FDP), der die Tagung mit einer Rede brüskierte, die von Überheblichkeit und Ignoranz troff. So sieht es aus, wenn der Staatsapparat in die Hände von Staatsfeinden fällt.

Mittwoch, 22. Juli 2009

Enron 2002 - Finanzkrise 2008

2002 ging der amerikanische Energiekonzern Enron, der in Wirklichkeit ein Handelskonzern gewesen war, mit einem riesigen Knall pleite. Angeblich völlig unerwartet, so hieß es damals. Ganz ähnlich war es 2008 mit Lehman Brothers usw. Damals schrieb ich über den Fall Enron folgenden Essay:

Enron – das Spiel ist aus, doch 500 CEOs[1] tanzen der Welt weiter auf der Nase herum

»Ich glaube an Gott und die freien Märkte«, deklamierte Kenneth Lay, CEO des amerikanischen Energiekonzerns Enron, am 2.2.2001, und sein Vorgänger Jeff Skilling sekundierte: »Wir haben die Engel auf unserer Seite.« Der amerikanische Journalist Tom Frank analysierte in Le Monde diplomatique (Beilage zur taz 15.2.2002) die religiösen Aspekte der größten Pleite in der amerikanischen Geschichte.

Wie ein Sektenguru hatte Lay es verstanden, in der ganzen Welt eine Gemeinde mächtiger, ihm blind ergebener Gefolgsleute um sich zu scharen; keine lächerlichen Schwärmer, sondern ausschließlich harte Machtmenschen, gnadenlose »Realpolitiker«, »Sachverständige«, »Chefredakteure«. Diese Leute waren so mächtig, dass sie Regierung, Gesetzgebung, Rechtsprechung und öffentliche Meinung, alle vier öffentlichen Gewalten mehrerer Staaten, darunter der USA, Großbritanniens und Indiens, im Sinne ihres Gurus manipulieren konnten.

Unter großem Hallo haben die Enronisten die Privatisierung und »Deregulierung« vormals öffentlicher Dienstleistungen betrieben: der Energie- und Wasserversorgung. Sie wurden nicht müde, ihre immer gleiche Heilsbotschaft in die Welt hinauszuposaunen: Nur vollkommen freie, an kein Recht und Gesetz gebundene Unternehmer sind in der Lage, die Menschen mit dem zu versorgen, was sie brauchen. Folgsam schafften die amerikanischen Staaten alle »hemmenden« Vorschriften und behördlichen Kontrollen ab. Die Folge waren zum Beispiel katastrophale Stromausfälle und explodierende Strompreise in Kalifornien. Nur in Los Angeles blieben die Preise stabil, denn die Stadt hatte als eine der wenigen sich der enronistischen Dampfwalze entgegengestellt und ihre kommunale Strom­versorgung behalten.

Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: In 2001 steckte Lay sich eine Bonuszahlung von 142 Mio. $ in die Tasche und konnte dazu das Gefühl genießen, einer der mächtigsten Männer der Welt zu sein. Zeitungen und Zeitschriften setzten Skilling und Lay auf die Titelseite[2], Bücher zum Zwecke ihrer Verehrung wurden weltweit vertrieben[3]. Sechsmal in Folge wurde Enron von amerikanischen Fachzeitschriften zum »innovativsten Unternehmen der USA« gewählt. Anfang 2002 verschwand Lay mit seinen Millionen und ließ einen riesigen Bankrott hinter sich zurück. 22.000 Arbeiter und Angestellte verloren ihre Stellen und den größten Teil ihrer privaten Altersvorsorge, denn die war – echt cool, wie es der Zeitgeist befiehlt – in Enron-Aktien angelegt. Lay hat sein Aktienpaket noch rechtzeitig verkauft; der Erlös ist unbekannt. Den Coup kann man den Ganoven der Welt nur zur Nachahmung empfehlen. Doch eine Bitte habe ich: Vernichtet dabei auch die Privatvermögen folgender glorreicher sieben Prediger des regellosen Unternehmertums: Guido Westerwelle, Jürgen Möllemann, Edmund Stoiber, Wolfgang Clement, Helmut Markwort, Josef Joffe und Günther Jauch!

Mit Westerwelle geht das Licht aus in Deutschland.

Der Zusammenhang ist ganz einfach: Hemmungs- und skrupellose Privatunternehmer wie Lay entlassen so viel Personal wie nur irgend möglich. Reserven für Notfälle werden abgeschafft. Fällt irgendwo eine große Leitung oder ein Kraftwerk aus, ist niemand mehr da, der eingreifen könnte, und oft ist eine Kettenreaktion die Folge: Andere Leitungen werden überlastet und fallen auch aus, es kommt zum Black-out, zum stundenlangen groß­flächigen Stromausfall.

Dieses Phänomen ist in Deutschland zum Glück noch unbekannt, denn noch ist Deutschland ein »überreguliertes« Land mit – Pfui! – »Versorgungsmentalität«: Regeln aller Art sorgen dafür, dass z. B. die sichere Versorgung des Landes mit Energie und sauberem Wasser Vorrang hat vor dem Profitstreben von Aktionären und den Allmachtsphantasien der CEOs. Aber die oben genannten glorreichen Sieben und viele andere arbeiten daran, den Black-out, die Herrschaft der Dummheit, endlich auch in Deutschland zu etablieren.

Die Spieler und ihre Puppenstube

Kenneth Lay hat dem Begriff »Global Player« neue Farbe geben und ihn zur Kenntlichkeit entstellt. Dass Enron mit nichts Reellem, Irdischen mehr gehandelt hat – weder mit Rohren noch mit Kabeln noch mit Gas oder Strom –, sondern mit abstrakten Verträgen, Derivaten, Optionen, Konditionen usw., wurde von der Wirtschaftspresse immer wieder als besonders genial und zeitgemäß gefeiert. Am Rande des Enron-Skandals kam nun heraus, dass Enron die regelmäßig anreisenden Wallstreet-Analysten mit einer perfekten Kulisse gefoppt hat: Immer wenn die Herren ins Haus standen, strömten Mitarbeiter in einen sonst leer stehenden Saal, schmissen die Computer an, rannten hektisch hin und her, telefonierten mit anderen Kollegen und simulierten irgendwelche geheimnisvollen Geschäfte. Das Abstraktum, mit dem Enron handelte, war buchstäblich nichts. Dass Enron trotzdem ein paar Jahre lang dicke Gewinne ausweisen konnte, lag wohl zunächst an einem gut geölten Schneeballsystem; später wurde bekanntlich mit massiven Bilanz­fälschungen nachgeholfen. Enron was a fake.

Also, Leute, seit gewarnt: Die Globalspieler meinen das ernst mit dem Spiel! Sie spielen mit uns und der Welt, und sie organisieren das Ganze so, dass es für sie persönlich immer nur nette Gewinne gibt, aber niemals böse Folgen. Die müssen andere ausbaden.

Nicht Geld regiert die Welt; Schrempp regiert die Welt

Ist es wirklich der »Terror der Ökonomie«, der uns beherrscht, wie Viviane Forrestier schrieb? Regieren ökonomische Sachzwänge, die betriebswirtschaftlichen Interessen großer Konzerne? Wenn man ins Detail geht, sind Zweifel angebracht.

Was hat Paul Hochscherf vom Kölner Maschinenbaukonzern Klöckner-Humboldt-Deutz (KHD) um 1990 dazu getrieben, in Saudi-Arabien ein Zementwerk nach dem anderen zu verkaufen zu Preisen und Bedingungen, die KHD niemals einhalten konnte? Ganz einfach sein persönlicher Wunsch nach Geld und Macht; er war ein paar Jahre lang, bis die Sache 1995 aufflog, der große Boss, der Macher, der die dicken Aufträge reinholte und zu dem der ganze Konzern ehrfürchtig aufsah. Dann verschwand er, der Konzern schlitterte knapp an der Pleite vorbei und schloss zahlreiche Werke, entließ tausende von Menschen in die Arbeitslosigkeit.

Getrieben vom damaligen bayerischen Innenminister Edmund Stoiber stieg die halbstaatlich bayerische Landeswohnungs- und Städtebau­gesellschaft (LWS) um 1995 in das Bauträgergeschäft ein. Finanzminister Georg von Waldenfels warnte und behielt Recht: Die LWS machte mit Großprojekten mal eben 500 Mio. DM Verlust. Als der Skandal 1999 ruchbar wurde, entließ Stoiber, inzwischen Minister­präsident, als Sündenbock den damaligen Justizminister Alfred Sauter, zuvor Aufsichts­rats­vorsitzender der LWS. Bis April 2001 ermittelte ein Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags, dass Sauter »der Unschuldigste von den Schuldigen« gewesen war, so der SPD-Abgeordnete Gantzer.[4] Schuldig war nach Einschätzung der SPD vor allem Stoiber gewesen, der sich mit den gewagten Geschäften gegen seinen Rivalen Waldenfels durchsetzen wollte, als es darum ging, wer neuer Ministerpräsident wird. Stoibers Rechnung war aufgegangen: Mache irgendetwas Großes, und sei es der größte Unsinn, dann wirst du der Größte.

Die von Jürgen Schrempp betriebene Fusion von Daimler und Chrysler stürzte zwar den Konzern in seine bislang schlimmste Krise,[5] aber sie vervielfachte Schrempps Gehalt und machte Schrempp zu einem der weltgrößten Marktfürsten beiderseits des Atlantiks.

Die CEOs brauchen ein Umfeld williger Vollstrecker, vor allem in den interessanten staatlichen Gremien. Wie die Enron-Chefs das organisiert haben, hat Tom Frank recherchiert: Wendy Gramm, Frau des wichtigen US-Senators Phil Gramm, saß in einer Kommission über die Begrenzung von Warentermingeschäften. Sie setzte durch, dass Enron sich nicht an die 1993 beschlosse­nen Regeln halten musste; zum Dank bekam sie einen gut dotierten Posten im Enron-Aufsichtsrat. Lord John Wakenham, britischer Konservativer, setzte sich massiv für die Privatisierung der britischen Elektrizitätswerke und für den Einstieg von Enron in die britische Wasserwirtschaft ein; danach wurde er Mitglied im Enron-Aufsichtsrat. Nebenher sponsorte Enron 1998 jenen Labour-Parteitag, der u.a. die Privatisierung von Teilen des britischen Schulwesens absegnete.

Frank Wisner, US-Botschafter in Indien, besorgte Enron Mitte der 90er Jahre den 3-Mrd.-$-Auftrag zum Bau des Wasserkraftwerks von Dabhol. Als die betroffene Bevölkerung massiv gegen Umweltzerstörung, Landverlust und überhöhte Stromtarife protestierte und die indische Regierung einen Ausstieg erwog, da war es wieder der brave Frank Wisner, der die Regierung mit massiven Drohungen zurück auf die Enron-Spur trieb. Nach seinem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst wurde er Aufsichtsrat bei Enron.

Bis zuletzt haben die Investmentbanken, darunter J. P. Morgan und die Deutsche Bank, die Enron-Tour gedeckt, alle Verluste in obskuren Tochtergesellschaften zu verstecken. Als der bekannte Wallstreet-Analyst Daniel Scotto im August 2001 als Erster seiner Branche vor dem Kauf von Enron-Aktien warnte, wurde er alsbald entlassen. Seine folgsameren Kollegen stimmten noch im November, drei Tage vor Bekanntgabe des Konkurses, mit sechs zu eins für Kaufen bzw. Halten des Lügenpapiers.[6]

Sie reden immer so viel vom natürlichen Egoismus der Menschen, die Prediger des Großkapitals. Nehmen wir sie einfach beim Wort! Was Schrempp dazu treibt, einen US-Konzern zu schlucken, ist sein ganz persönlicher Egoismus: sein Wunsch, noch mehr Geld und noch mehr Macht zu haben. Es sind keine anonymen Systeme, keine undurch­schaubaren Sachzwänge, die uns beherrschen; es sind ganz konkrete kleine Menschen mit ihren ganz konkreten kleinen Wünschen. Jürgen Schrempp mit seinem banalen Interesse, der Mann zu sein, der die Puppen tanzen lässt – dieser Schrempp regiert die Welt, so lange wir ihn lassen.

Weil diese Leute von Berufs wegen rücksichts- und verantwortungslos sind wie spielende Kinder, deshalb singen ihre Lügensänger so inbrünstig das Lied der Selbst- Verantwortung. Doch auch dieses Lied bekommt mehr Sinn, wenn man es ernst nimmt: Sie singen uns von Selbstverantwortung, weil ihre Herren die Letzten sind, die für unser Schicksal irgendeine Verantwortung übernehmen würden. Wir können den alten Satz dagegensingen: »Es rettet uns kein höh’res Wesen, / kein Gott, kein Kaiser noch Tribun; / uns aus dem Elend zu erlösen, / können wir nur selber tun.« Oder, mit Brecht: »Ohne euch reicht’s für uns schon!«

Toni Kalverbenden, März 2002

Anmerkungen und Quellenangaben:
[1] Chief Executive Officers, wörtl.: Hauptgeschäftsführer
[2] Business 2.0, Sept. 2001
[3] Gary Hamel: Leading the Revolution (deutsche Ausgabe: Das revolutionäre Unternehmen. Wer Regeln bricht: gewinnt. München 2001, Econ)
[4] FR 4.4.2001
[5] Der Nettoverlust des Konzerns für 2001 wurde Anfang 2002 auf rd. 700 Mio. € beziffert. Dazu trugen nach offiziellen Angaben ein 1,4 Mrd. € teures Umbauprogramm bei, das im Rechenschaftsbericht unter »Einmaleffekte« verbucht wurde [vermutlich die inneren Umstellungen nach der Fusion], die weltweite Konjunkturflaute sowie »der harte Wettbewerb in Nordamerika«. taz 7.2.2002 (n.a.)
[6] Handelsblatt, 19.2.2002; Financial Times Deutschland, 21.3.2002, zit. nach C. Schuhler: Enron. Pleite von Wall Street und Washington. isw-spezial Nr. 16, S. 4f

Anti-Nietzsche


Zarathustra in die Tonne! Eine Abrechnung zum 100. Todestag Friedrich Nietzsches (Sept. 2000)

Ist es nicht schrecklich, dieses pubertäre Gehabe angehender Übermenschen und ihrer begeisterten Jünger? Leider verfällt man (das Kind im Manne im Polemiker) fast unweigerlich in den gleichen krächzend-ungeschlachten Ton, wenn man das Kultbuch der Schützengrabenstudenten von Langemarck auch nur anpackt. Nun gut - werde, der du bist, und gib Gegengift!

Kann man Nietzsche auf sein Zarathustrabuch reduzieren? Jawohl, das kann man, denn es ist sein einziger Bestseller. Die zentralen Gedanken seiner späteren Werke "Jenseits von Gut und Böse" und "Zur Genealogie der Moral" hat er im "Zarathustra" bewusst populär-literarisch verdichtet und vorweggenommen. Wenn ich als Historiker das Phänomen Nietzsche untersuche, dann meine ich vor allem den Einfluss, den der Mann und sein Werk auf die Geschichte genommen haben - und der beruht vermutlich zu 80-90% auf seinem einzigen Bestseller.

(Vorwort, Jan. 2007)

Er war größenwahnsinnig und egoman, seine Hybris kannte von Anfang an keine Grenzen. Schon mit 15 schrieb er lieber Autobiographien* als erst einmal zu leben. Im Herbst 1888 schrieb er dann Sachen wie: »Mein Loos will, daß ich der erste anständige Mensch sein muß.« »Ich habe mit ihm [meinem Werk] der Menschheit das größte Geschenk gemacht, das ihr bisher gemacht worden ist.«* Im Januar 1889 schrieb er an Jacob Burckhardt, er wolle zwar eigentlich lieber Professor in Basel sein als Gott, aber länger dürfe sein kleinlicher Egoismus der Neuerschaffung der Welt nicht im Wege stehen. Dieser Brief war der Anlass dafür, dass Friedrich Nietzsche in die Psychiatrie eingeliefert wurde. Ich aber mag es nicht, wenn sich jemand selbst zum einzigen anständigen Menschen, zum größten Wohltäter der Menschheit erklärt. Dass die Philosophen bis heute Nietzsche für seinen Größenwahn bewundern, kann ich mir nur damit erklären, dass sie selber gerne so größenwahnsinnig wären oder gewesen wären. Das könnte der Grund sein, der mir die Philosophen so suspekt macht.


Er hat sich mit großem Hallo selbst zum Propheten erklärt und dann auch noch geirrt. Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte, hat er irgendwo geschrieben*, und dann die »Heraufkunft des Nihilismus« angekündigt. Ich aber glaube, dass niemand wissen kann, was in 200 Jahren sein wird, und dass alle Prophezeiungen dieser Art falsch sind, wie auch Nietzsches es war. Denn wo ist sein Nihilismus geblieben? Leben wir jetzt in einer Zeit, in der die Menschen fast nichts mehr glauben, nichts mehr hoffen, nichts mehr lieben und nichts mehr hassen? Mir scheint, es ist nicht so. Manche glauben an Nietzsche, viele an den Markt; daran, dass freier Welthandel und kapitalistischer Wettbewerb alle Probleme der Menschheit lösen werden. Manche hoffen, dass die Gentechnik Altern und Tod besiegen wird. Leonardo und Kate lieben einander auf der Titanic, und Millionen seufzen mit ihnen. Serben hassen Albaner und Albaner hassen Serben. Es wird also geglaubt, gehofft, geliebt und gehasst wie eh und je. Leben wir in einer Zeit ohne Werte? Ich sehe Millionen Menschen, die an den Wert ihrer Aktien, Häuser, Autos glauben. Leben wir in einer lebensfeindlichen Zeit? Ich sehe eine Spaßgesellschaft, die das Leben liebt, so lange es Spaß macht. Da ist kein Nihilismus, und ich mag keine falschen Propheten.


Auch dies hat er vorausgesagt: Man wird nicht mehr arm und reich: beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus. (Also sprach Zarathustra. Zarathustras Vorrede, 5) – In Wirklichkeit aber waren die Unterschiede zwischen Arm und Reich niemals größer als heute. In Wirklichkeit kam nach Nietzsche die Zeit der Weltkriege und Diktaturen: Da wurde befohlen und gehorcht wie nie zuvor. In Wirklichkeit sind heute fast alle stolz darauf, dass sie anders als die anderen sind und das ganz Andere wollen. Nietzsche hat sich geirrt, und ich mag keine falschen Propheten.


Er hat Gott für tot erklärt, um sich selbst an dessen Stelle setzen zu können. Ich aber beharre darauf, dass Gott entweder unsterblich ist oder nie existiert hat; in beiden Fällen kann er nicht tot sein.

Er war keineswegs der Meister der Sprache, als der er uns verkauft wird, denn er hat schiefe Gleichnisse und Bilder gewählt. Über Zarathustra schrieb er, ...er wollte in Erfahrung bringen, was sich inzwischen mit dem Menschen zugetragen habe: ob er größer oder kleiner geworden sei. Und einmal sah er eine Reihe neuer Häuser; da wunderte er sich und sagte: »Was bedeuten diese Häuser? (...) Und diese Stuben und Kammern: können Männer da aus- und eingehen?« (...) Endlich sagte er betrübt: »Es ist alles kleiner geworden!« (Also sprach Zarathustra. Dritter Teil. Von der verkleinernden Tugend, 1) – In Wirklichkeit werden die Menschen aber immer größer. Als Männer noch in Höhlen aus- und eingingen, waren sie viel kleiner als zu Nietzsches Zeiten, und heute sind sie noch größer. Auch die Häuser werden immer größer. – Rund, rechtlich und gütig sind sie miteinander, wie Sandkörnchen rund, rechtlich und gütig mit Sandkörnchen sind. (Von der verkleinernden Tugend, 2) – In Wirklichkeit aber sind Sandkörnchen nicht rund, sondern spitzig und kantig. So gesehen, kommt das Gegenteil von dem heraus, was Nietzsche mit dem Vergleich sagen wollte. Ich halte dafür: Schiefe Bilder stehen meist für schiefe Gedanken. Wer in der Lage ist, stimmige Gedanken zu formulieren, ist auch in der Lage, stimmige Bilder dafür zu finden.

Er hat gegen die »kleinen Leute« gehetzt, die »Viel-zu-vielen«, die »Überflüssigen«, die »letzten Menschen«: Sie haben die Gegenden verlassen, wo es noch hart war zu leben: denn man braucht Wärme. (Also sprach Zarathustra. Zarathustras Vorrede, 5) – Er selbst aber brauchte sie auch, die Wärme, und zog trotz seines fatalen Hangs zum Hammer nicht nach Hammerfest, sondern ins wärmere Italien. Ich aber mag's nicht, wenn jemand sich verächtlich über Verhaltensweisen anderer äußert und dann selbst das gleiche tut.
Er hat gegen uns gehetzt: Sie wollen im Grunde einfältiglich eins am meisten: daß ihnen niemand wehe tue. (..) Dies aber ist Feigheit: ob es schon »Tugend« heißt. (...) Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: damit machten sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen bestem Haustiere. (Also sprach Zarathustra. Dritter Teil. Von der verkleinernden Tugend, 2) – Auch ich will, dass mir niemand weh tut. Ich riskiere das zwar manchmal, so auch mit diesem Text, vergesse darüber aber nie, dass alles, was mir weh tut, schlecht ist. Dagegen finde ich es gut und schön, wenn Menschen schreiben, lesen und rechnen lernen. Wölfe können das nicht. Und Lehrerinnen, die sich in eine Klasse trauen, um den Kindern etwas beizubringen, finde ich mutig, nicht feige. Im übrigen mag ich es nicht, wenn mich jemand für überflüssig erklärt und zur Vernichtung freigibt.

Er hat für das antike Sparta geschwärmt, wo die Welt noch ordentlich eingeteilt war in Herrscher, Krieger, Bauern und Sklaven.* Ich aber weiß, dass ich in Sparta entweder schon als Säugling getötet worden oder Sklave geworden wäre. Nun, ich mag keine Welt, in der man mich nicht leben lässt oder versklavt.

Er hat die Frauen verachtet und erniedrigt: Das Glück des Mannes heißt: ich will. Das Glück des Weibes heißt: er will. (...) ...denn der Mann ist im Grunde der Seele nur böse, das Weib aber ist dort schlecht. (...) Und gehorchen muß das Weib und eine Tiefe finden zu seiner Oberfläche. Oberfläche ist des Weibes Gemüt, eine bewegliche stürmische Haut auf einem seichten Gewässer. / Des Mannes Gemüt aber ist tief... (Also sprach Zarathustra. Die Reden Zarathustras. Von alten und jungen Weiblein) – Ich aber liebe und achte die Frauen, schätze ihren Anteil an der Entwicklung der menschlichen Kultur hoch ein und bin überzeugt, dass der Menschheit viel Unheil erspart geblieben wäre, wenn die Frauen sich öfter gegen die Männer durchgesetzt hätten.

Er hat den Krieg verherrlicht wie so viele seiner Zeitgenossen: Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den langen. (...) Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt. (Also sprach Zarathustra. Die Reden Zarathustras: Vom Krieg und Kriegsvolke.) – Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und das Weib zur Erholung des Kriegers: alles andre ist Torheit. (Also sprach Zarathustra. Die Reden Zarathustras. Von alten und jungen Weiblein.) – Ich aber hasse den Krieg und alle Kriegstreiber. Die Menschen sind zum Leben, zum Lieben geboren und nicht zum Töten. Und entgegen einer weit verbreiteten Ansicht leben sie auch tatsächlich in neun von zehn Jahren, in neun von zehn Ländern einigermaßen friedlich zusammen; sie können das! Ich liebe Gustav Heinemann, der gesagt hat: »Der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir uns bewähren müssen.«

Er hat die Herrschsucht verherrlicht als die Glüh-Geißel der härtesten Herzensharten... Herrschsucht: das Erdbeben, das alles Morsche und Höhlichte bricht und aufbricht; die rollende grollende strafende Zerbrecherin übertünchter Gräber; das blitzende Fragezeichen neben vorzeitigen Antworten. (Also sprach Zarathustra. Dritter Teil. Von den drei Bösen, 2) – Ich aber sehe die vorzeitigen Antworten von herrschsüchtigen Herrschern gesetzt und das Fragezeichen aufblitzen in den Köpfen und Händen derer, die Widerstand leisten.

Er hat die Härte gepredigt und (als "Zarathustra") zu seinen Jüngern gesagt: Wenn ihr das Angenehme verachtet und das weiche Bett, und von den Weichlichen euch nicht weit genug betten könnt: da ist der Ursprung eurer Tugend. (Also sprach Zarathustra. Die Reden Zarathustras. Von der schenkenden Tugend, 1.) – Ich aber liebe das Angenehme und ganz besonders mein weiches Bett. Ich liebe Lao-tse, der gesagt hat: Das weiche Wasser bricht den Stein.

Ach Gott, er war ein Kind seiner schrecklichen Zeit: Militarismus, Nationalismus, Blut-und-Eisen-Kult, Frauenverachtung, Hass auf Sozialisten und Demokraten – den ganzen Schrott hat er von Bismarck, Wilhelm & Co. übernommen und philosophisch überhöht. Auch seine hochgelobte Kampfansage an die christlich-katholische »Sklavenmoral« fügte sich wunderbar in Bismarcks Kulturkampf gegen die Katholiken ein. Ich aber mag es nicht, wenn mir verderbliche Ware als ewiger Wert verkauft wird.

Er hat der Psychoanalyse das Tor aufgestoßen;* das immerhin dürfte seine – wie ich vermute: einzige – bleibende Leistung sein. Der Rest ist von Übel. Dass Nietzsches Kampf gegen Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschenrechte heute wieder hoch gelobt wird, in einer Zeit, die dazu übergeht, den Wert eines Menschen nach seinem Aktienbesitz zu bemessen und Parlamentsbeschlüsse durch Vorstandsbeschlüsse zu ersetzen, das lässt Schlimmes befürchten und fordert mich zum Widerstand heraus. Dich hoffentlich auch!

*Literaturangaben, auf die ich mich beziehe:
  • Rüdiger Safranski: Nietzsche (München 2000), nach Christoph Türcke: Was mich rettet, macht mich kaputt. Die Zeit 24.8.2000 (Literatur)
  • Alain de Botton: Na also. Geht doch! Die Zeit 24.8.2000 (Leben). Wobei der Lobredner den Sätzen Nietzsches sogar ausdrücklich zustimmt!
  • Thorsten Gödecker: Pechvogel der Philosophie. Vor 100 Jahren starb der Denker und »Antichrist« Friedrich Nietzsche. Neue Westfälische 25.8.2000. Auch dieser Lobredner stimmt dem Satz Nietzsches zu – dabei hat er vor Kurzem wahrscheinlich noch das Ende der Gewissheiten und Geschichtsdeutungen bejubelt.
  • Bertrand Russell: Denker des Abendlandes. Eine Geschichte der Philosophie. Orig. London 1946. Bindlach 1996, S. 369
  • Martin Burger: Der Entlarver hinter der Maske. Die Sprache der Seele in der Philosophie Nietzsches. Psychologie heute, Sept. 2000, S. 60-68

Toni Kalverbenden